Blickpunkte. Fotografien als Quelle zur Erforschung der Kultur der Deutschen im und aus dem östlichen Europa

Blickpunkte. Fotografien als Quelle zur Erforschung der Kultur der Deutschen im und aus dem östlichen Europa

Organisatoren
Kommission für deutsche und osteuropäische Volkskunde in der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde e.V. (dgv)
Ort
Görlitz
Land
Deutschland
Vom - Bis
15.09.2010 - 17.09.2010
Url der Konferenzwebsite
Von
Heinke Kalinke, Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa

Mitte September kamen im Schlesischen Museum zu Görlitz auf Einladung der Kommission für deutsche und osteuropäische Volkskunde in der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde e.V. Wissenschaftler verschiedener historisch-kulturwissenschaftlicher Fachrichtungen zusammen, um Fotografien als Quellen zu Kultur und Alltagsleben der Deutschen in und aus dem östlichen Europa vorzustellen. Dabei ging es sowohl um Archive und Bilddatenbanken als Zugänge zu den Fotografien selbst als auch um Fragen der Kontextualisierung und Interpretation von Fotos im Rahmen konkreter Fragestellungen und Projekte.

Den Auftakt bildete ein Referat von MARITA KRAUSS und SARAH SCHOLL-SCHNEIDER (beide Augsburg) über die Einbeziehung von Fotografien in ein Oral History-Projekt über vertriebene Deutsche aus den Sudetengebieten. Die privaten Fotografien der Befragten dienen dabei im Rahmen der Erhebung der Lebensgeschichten von Angehörigen der Erlebnisgeneration als Anreiz für die erzählende Vertiefung einzelner Lebensabschnitte und Ereignisse. In Ergänzung zur Lebensgeschichte entstünden „Fotogeschichten“, die eine verbale Verbindung zwischen der heutigen, stets aktualisierten Erinnerungserzählung und dem einen vergangenen Augenblick festhaltenden Foto schaffen. Die Bilder selbst, die Fotogeschichten und die biografischen Erzählungen werden gesammelt und aufgezeichnet im Hinblick auf das in München geplante Sudetendeutschen Museum, dessen Konzeption nach Aussage von Marita Krauss von Einzelschicksalen ausgehend „Geschichte mit Geschichten“ erzählen will.

Die den zweiten Tagungstag eröffnenden Referate stellten die Fotoarchive von drei Einrichtungen vor, gaben Einblick in (Teil-)Bestände und zeigten jeweils (geplante) Recherchemöglichkeiten. TERESA VOLK (Freiburg) stellte exemplarisch einige Fotobestände des Freiburger Johannes-Künzig-Instituts für ostdeutsche Volkskunde vor. Es handle sich vor allem um Bestände aus der Zwischenkriegszeit, die als Nachlässe von Wissenschaftlern ins Institut gelangt seien und um Aufnahmen, die Johannes Künzig bzw. spätere Institutsmitarbeiter im Rahmen ihrer Forschungen angefertigt hätten. Geplant sei die Einrichtung eines ruhenden Archivs, dessen Bestände durch eine detaillierte Datenbank, die zukünftig kombinierte Suchabfragen im Internet ermöglichen soll, zugänglich gemacht werden sollen. WOLFRAM G. THEILEMANN (Sibiu/Hermannstadt) veranschaulichte anhand des Zentralarchivs der Evangelischen Kirche Rumäniens den Stellenwert des zugehörigen Bildarchivs in der gesamten archivalischen Überlieferung. Da Fotografien nicht zur klassischen amtlichen Überlieferung gehörten, trügen sowohl Entstehung wie auch Erhalt der Bilder überwiegend zufälligen Charakter. Meist als Privatfotos entstanden, zeigten die Bilder beispielsweise kirchliche Feste, Amtsträger oder kirchliches Kulturerbe wie Gebäude oder sakrale Gegenstände; als eher randständige Überlieferung gelangten sie oftmals in schlechtem Erhaltungszustand ins Archiv und könnten auch dort nur unvollständig erfasst, konserviert und medial aufbereitet (digitalisiert) werden, da der Evangelischen Kirche Rumäniens aufgrund des starken Mitgliederschwunds die Mittel dafür fehlten. Das Internetportal Schlesische Fotothek präsentierte im anschließenden Referat MAGDALENA GÒRNIAK (Opole/Oppeln) vom Freilichtmuseum in Opole. Bislang seien rund 1000 Fotografien, entstanden vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis zum Jahr 1945, online verfügbar. Die Bilder, zumeist professionelle Aufnahmen, die im Atelier oder durch Wanderfotografen vor Ort entstanden, zeigen überwiegend Gruppen bei festlichen Anlässen wie Hochzeit, Taufe, Beerdigung etc. Familien- und Einzelportraits im Atelier aber auch bei der Arbeit, Landschaften und Gebäude des Oppelner Schlesiens. Die Fotosammlung werde durch Neuzugänge fortlaufend erweitert, und Aufnahmen aus der Zeit nach 1945 sollen demnächst via Internet recherchierbar sein. 1

Mit dem Vortrag von ELŻBIETA BERENDT und MAŁGORZATA MICHALSKA (beide Wrocław/Breslau) vollzog die Tagung den Schritt von der Vorstellung und Präsentation konkreter Bestände und den Möglichkeiten zur Bereitstellung für die Forschung und Öffentlichkeit hin zu ihrer Interpretation, hier im musealen Kontext. Die Bilder einer schlesischen Trachtenhochzeit, wie sie in der Zeit zwischen den Weltkriegen als Inszenierung regionaler Identität und Volksfest mit historisierenden Requisiten, vor allem alten bzw. neu belebten Trachten, regelmäßig veranstaltet wurden, stellten die Grundlage dar für die Ausführungen der Referentinnen. Anknüpfend an Susan Sontag und Roland Barthes 2 thematisierten sie nach der Erläuterung der Entstehungsbedingungen vor allem die Schwierigkeiten der Interpretation, die immer einenge und aussondere, die Unzuverlässigkeit und Doppeldeutigkeit von Bildbeschriftungen und die Schwierigkeiten, die sich zudem ergeben, wenn die Kontinuität der Überlieferung wie im Falle Schlesiens unterbrochen werde.

Am Beispiel zweier Fotobestände des Herder-Instituts fragte im Anschluss ELKE BAUER (Marburg) nach dem Verhältnis von Inszenierung und Authentizität. Die Sammlung Treichel, die Aufnahmen vom Gut Hochpaleschken in der Kaschubei um 1900 enthält, auf denen Aspekte der ländlichen Lebens- und Arbeitswelt festgehalten sind, enthält mehrere Aufnahmen, die die Inszenierung von Erntebräuchen wie das „Binden des Gutsherren“ zum Zweck der Dokumentation festhielten. Ein Vierteljahrhundert später, 1926, entstanden die Bilder des zweiten Bestands auf einer Forschungsfahrt von Studierenden und Angehörigen der Jugendbewegung zu deutschen Siedlungen in Wolhynien. Die Fahrt sollte Erkenntnisse über diese so genannten Auslandsdeutschen liefern und populariseren; vor allem auf ihre materielle Notlage und so genannte völkische Bedrängnis sollte hingewiesen werden. Zu diesem Zweck wurden auch während der Fahrt entstandene Fotografien publiziert, die vor allem das vorgebliche Kulturgefälle zwischen den deutschen Siedlern und ihren Nachbarn anschaulich machen sollten.

Ebenfalls mit dem Grenzbereich zwischen Realität und Fiktion beschäftigte sich VLADIMIR J. HORÁK (Ostrava/Ostrau) bei der Beschreibung ethnografischer Fotografien von brauchtümlichen Handlungen bzw. Brauchausübenden aus Mähren.

MALWINE SEEMANN (Oldenburg) dagegen veranschaulichte anhand eines privaten Bestands von Fotografien einer Mädchen-Landjahrführerin den Zwiespalt zwischen persönlicher Erinnerung und Fotografien als deren Trägern und dem öffentlichen Beschweigen der NS-Zeit bzw. der eigenen Verstrickung in das NS-System. Für diese von der ehemaligen Landjahrführerin als „die schönsten Jahre“ bezeichnete Zeit werde die politische Dimension des eigenen Tuns sowie der dabei entstandenen Fotos geleugnet; durch nicht vollständig ausgesonderte NS-Symbole wie Fahnen oder Abzeichen sowie die Ästhetik des Faschismus (Mädel neben Mädel, Mädel hinter Mädel) bliebe diese Dimension jedoch erhalten und erschließbar.

Ästhetische Topoi und kanonisierte Motive in Bildbänden über das Memelland nach 1945 präsentierte EVA PLUHAŘOVA-GRIGIENÈ (Hamburg). Die imaginierte Heimat dieser visuellen Erinnerung entstünde vor allem durch Zurückweisung der Moderne, der Anderen (hier der Litauer) sowie im Beharren auf einer Kulturträgerrolle der Deutschen, wobei der historische Kontext vernachlässigt, weil als bekannt vorausgesetzt werde. Als Publikum werde entsprechend die eigene Gruppe angenommen, die Bildbände wie Familienalben konzipiert.

Noch einmal auf einen konkreten Fotobestand ging im Schlussreferat THERESA LANGER (Passau) ein. Ihr Referat über das Fotoatelier Seidel in Krumau/Cěský Krumlov umriss zunächst kurz die Geschichte des Familienunternehmens (Vater und Sohn) Seidel, das von 1890 bis 1953 existierte und dessen Nachlass vollständig erhalten die Grundlage für das 2008 eröffnete Museum Fotoatelier Seidel 3 bildet. Insgesamt sind so Langer rund 140.000 Glasplatten vorhanden, die aufgrund der lückenlosen Geschäftsüberlieferung (Auftragsbücher) genau zugeordnet werden könnten. Die Mehrzahl der Bilder seien Einzel- und Gruppenportraits (ca. 100.000 Bilder), den Rest bildeten Landschaften, Ortsansichten und Sehenswürdigkeiten, die für den seit 1899 bestehenden Postkartenverlag Seidel aufgenommen worden seien. Auch bei den Seidelschen Aufnahmen habe die Sicherung, Digitalisierung und Online-Stellung der Fotos begonnen, der einzigartige Bestand biete darüber jedoch vor allem Material für zahlreiche kulturwissenschaftliche Fragestellungen, zu deren Bearbeitung Langer nachdrücklich einlud.

Die gut organisierte Tagung wurde ergänzt durch eine Führung durch das im Jahr 2006 eröffnete Schlesische Museum zu Görlitz, das sich in einem der ältesten und repräsentativsten Renaissance-Gebäude der Stadt befindet und die Kultur und Geschichte der Region Schlesien darstellt.

Im Hinblick auf theoretische oder methodische Fragen brachte die Tagung insgesamt wenig Neues, die Notwendigkeit sorgfältiger Beschreibung, Kontextualisierung und behutsamer Interpretation von Fotografien wurde hingegen eingehend betont und beispielhaft vorgeführt. Zudem wurde deutlich, wie viele außerordentlich interessante Bildbestände zur Kultur der Deutschen im und aus dem östlichen Europa noch eingehender Untersuchung harren und wie wichtig in diesem Bereich die wissenschaftliche Zusammenarbeit über nationale wie fachliche Grenzen hinweg ist. Ihre Fortsetzung findet die Tagung in Blickpunkte II, die am 17.-18. November 2010 im Freiburger Johannes-Künzig-Institut stattfindet 4.

Konferenzübersicht:

Marita Krauss, Sarah Scholl-Schneider (Augsburg): „Heimatbilder“ – multiperspektivische Zugänge zum Zusammenleben in der Mitte Europas. Fotografien aus dem Projekt Sudetendeutsche Vertriebene in Bayern

Teresa Volk (Freiburg): Ein Bildarchiv geht online. Das neue Datenbankprojekt des Johannes-Künzig-Instituts für ostdeutsche Volkskunde, Freiburg

Wolfram G. Theilemann (Sibiu/Hermannstadt): Das Bildarchiv des ZAEKR Sibiu/Hermannstadt, Rumänien: Entstehung – Erschließungsstand – Recherchemöglichkeiten

Magdalena Górniak (Opole/Oppeln): Die Schlesische Fotothek als Quelle zur Erforschung der Geschichte und Kultur Schlesiens. Vorstellung einer interaktiven Homepage

Elżbieta Berendt, Małgorzata Michalska (Wrocław/Breslau): Geschichte und Geschichten. Interpretationsweisen von alten niederschlesischen Fotoaufnahmen

Elke Bauer (Marburg): Zwischen Inszenierung und Authentizität: Kontextualisierung ausgewählter Bildzeugnisse zum Alltagsleben der Deutschen in Ostmitteleuropa vor 1945

Vladimír J. Horák (Ostrava/Ostrau): Fotografien in der Ethnografie als Zeitdokument: der eingefangene Augenblick: Realität oder Fiktion?

Malwine Seemann (Oldenburg): Mädchen-Landjahrlager in Schlesien – Bilder einer Erziehungseinrichtung des Nationalsozialismus

Eva Pluhařová-Grigienė (Hamburg): Imaginäre Heimat. “Heimat” und “Heimatverlust” in der visuellen Erinnerung der Memelländer nach 1945

Theresa Langer, Dipl.-Kulturwirtin (Passau):Das Fotoatelier Seidel in Český Krumlov/Krumau. Der Nachlass Seidel als Quelle für Volkskunde und Regionalgeschichte

Anmerkungen
1 Vgl. <http://www.fototeka.slaska.pl> (19.10.2010).
2 Susan Sontag: On Photography. Engl. Originalausgabe New York 1977. Dt. Erstausgabe unter dem Titel Über Fotografie. München, Wien 1978. Roland Barthes: La chambre claire. Note sur la photographie. Paris, Seuil 1980. Dt. Erstausgabe unter dem Titel: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie. Frankfurt am Main 1985.
3 Vgl. <http://www.seidel.cz> (19.10.2010).
4 Nähere Informationen und Tagungsprogramm unter <http://www.jkibw.de/?Veranstaltungen:Tagungen> (19.10.2010).


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